Erinnerungen an Großzössen und ….. das „Rote Meer“

Mein Opa gehört zum Jahrgang 1939 und ist in Großzössen geboren. Er hat seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben und behauptet darin, er kenne Großzössen und die Umgebung aus Kindheitszeiten besser als seine eigene „Westentasche“. Seinen Enkeln hat er darin viele Geschichten über seine Kindheit

Postkarte von Großzössen um 1920 (Quelle Lampert)

niedergeschrieben. So auch die Sache mit dem „Roten Meer“ und andere Namensgebungen. Die Braunkohleindustrie hat wie vielen seiner Generation sein Leben geprägt. Um Großzössen und Kahnsdorf herum wurde die Kohle seit Anfang des 20. Jahrhunderts gefördert und verarbeitet. 1907 lieferte die Brikettfabrik Großzössen die ersten Braunkohlebriketts. Aus der Chronik von Rudolf Morbach erfuhr er, dass die zwei Direktoren des Werkes ihren Betrieb nach den Vornamen ihrer Frauen „Dora und Helene“ benannten. Unter den Großzössern gab es zu jener Zeit  den Spruch „Auf Dora und Helene arbeiten Vater und Söhne für ganz billige Löhne“. Opa kennt noch die Anlagen des Schachtabbaues hinter dem einstigen Braunkohlenwerk Großzössen persönlich. Dieser Schachtabbau gehörte mit zu den Anfängen der Förderung von Braunkohle in unserer Gegend. Die damals noch teilweise vorhandenen Anlagen dienten in den Kriegsjahren des 2.Weltkrieges als Luftschutzbunker und als man die Werke in Böhlen/Espenhain bombardierte, saß er mit vielen Großzössnern in den Stollen des einstigen Tiefbaubetriebes. Großzössen wurde im 2.Weltkrieg von 3 Bomben getroffen. Zwei inmitten des Ortes und eine etwas außerhalb. Menschen kamen nicht zu Schaden. Das  sogenannte "Nazihaus", in Richtung Lobstädt etwas außerhalb des Ortes gelegen, wurde zerstört. Es war ein Klinkergebäude und diente der NSDAP viele Jahre als Unterkunft. Hier wurden Veranstaltungen, Taufen u.a. durchgeführt. Um das Fundament dieses Hauses herum wuchs eine Maulbeerbaumhecke, die als Nahrungsgrundlage für die in seiner Kindheit betriebene Aufzucht von Seidenraupen genutzt wurde. Allerdings gab es  im benachbarten Kleinzössen am 12. September 1944 einen Bombeneinschlag mit 3 Toten.

Nach Kriegsende konnte mein Opa als Junge die Entwicklung der Kohleindustrie nach 1945  miterleben    und  war später als Lehrling und Arbeiter im Werk als Beschäftigter des Braunkohlewerkes selbst daran beteiligt. Der Tagebau Witznitz1–das heutige Speicherbecken- wurde bis 1945 betrieben.

Tagebaue um Kahnsdorf und Großzössen (QuelleL Kadler)

Die Tagebaue „Dora und Helene“ und den „Viktoriaschacht“ hatte man bereits ausgekohlt und teilweise verspühlt. Im Grenzbereich  des Tagebaus Witznitz 1 und dem Tagebau Dora und Helene verblieb ein Restloch im Bereich der Gemeindeflur. Es war ein kleines Tagebaurestloch und um dieses herum gab es keinerlei Vegetation, ideal zum Spielen und nach Anstieg des Grundwassers eine Bademöglichkeit. Durch die Tagebaue und das umliegende Kippengelände  gelangt auch Pyrit (ein Eisen-Schwefelkies) an die Erdoberfläche, welches durch Oxidation unter Einwirkung von

                                                  Das „Rote Meer“  im August  2012                                  Eisenoxydfärbung im Wasser

Wasser und Sauerstoff zu schwefeliger Säure und Eisenhydroxid oxidiert wird. Dieses Eisenhydroxid sieht  man als rostigen Schwebstoff in Tagebaurestlöchern. Es kam im beschriebenen Tagebaurestloch  in ungewöhnlichen Mengen und auch mit sehr rötlich aussehender Tendenz darin vor und weil die Einwohner Orientierungen brauchten,  kam der Begriff des "Roten Meeres" zustande. Als Jungs haben sie sich in diesem Wasser erst mit feuchtem Ton den Körper eingeschmiert und danach im Pyrit haltigem Wasser gebadet, so sahen sie wie Indianer aus. Mit der Zeit verschwand dieser Schwebstoff und es entstand ein kleines Badeidyll. Heute betreuen es die Anglersportfreunde von Großzössen. Die Relikte, der nicht mehr betriebenen Spülkippe Dora-Helene, dienten den Jungs nach ihrer Einstellung als Spielanlage. Es gab noch ausgediente Feldbahnloren, mit denen sie Fahrten durchführten und anderen Unsinn veranstalteten. Allerdings eine gefährliche Angelegenheit. An der Spülkippe des Wilhelmschachtes in Borna kam in den 50 -er Jahren ein Bub beim Spielen mit den Feldbahnloren ums Leben. Auch kam es oftmals zu Rutschungen an diesen Kippen. Die Kippengelände wurden rekultiviert und ein nicht geschlossener Teil der ehemaligen Tagebaue Dora und Helene sowie des Viktoriaschachtes als Abwasserbecken und Deponie bis zur Schließung der Fabriken genutzt. Im Bereich des Viktoriaschachtes-Dora Helene bildete sich die "Ostsee", doch darüber hat zur Namensnennung Opa uns nichts wissen lassen. In der Gemeinde Großzössen gab es auch eine "Rote Brücke", diese wie ein Torbogen gebaute Brücke diente als Gleiszufahrt zum Braunkohlewerk. Unter der Brücke verlief eine unbefestigte Strasse. Sie war die einzige Möglichkeit, um die Bewirtschaftung der von der Gleisanlage in den Tagebau Witznitz2 abgeschnittenen Flächen zu gewährleisten. Vor allem den Kindern und Jugendlichen hat sich dieser Name gut eingeprägt, weil im Winter dort prächtig gerodelt werden konnte. Und warum "Rote Brücke"? Sie war aus Klinkersteinen in der bekannten rötlichen Farbe gebaut wurden. Alle Einwohner des Ortes kannten auch die "Suppenkutsche" vom Werk,eine Lok mit unterschiedlicher Anzahl angehängter Holzwaggons. Die Waggons waren mit Sitzgelegenheiten und Tischen ausgestattet sowie einem Kohleofen. In diesem wurde das Mittagessen für die Kumpel in die Tagebaue gebracht- deshalb "Suppenkutsche". Doch auch Personen- und Materialtransporte fanden damit statt. Man konnte zum Werk Witznitz fahren und war damit schon fast in Borna. Die Kohleverbindungsbahn machte es möglich, dass mit der "Suppenkutsche" auch Zuschauer für den Fußball z.Bsp. nach Regis-Breitingen transportiert wurden. Als Junge war Opa beim Aufstiegsspiel von Großzössen in Regis dabei. Die Zössner besiegten Aktivist Wintersdorf am 24. August 1952 mit 3:2 und schafften den Aufstieg in die Bezirksliga Leipzig. Wenn Arbeiter oder Lehrlinge in der Brikettfabrik Witznitz eingesetzt wurden, kam dieses Gefährt auch zum Einsatz. Wer als erster zu kalter Jahreszeit die Kutsche bestieg, musste den Ofen in Betrieb nehmen. Der Stolz der Anschlussbahn im Tagebau Witznitz war der "Adler". Unter diesen Namen kannte aber kein Mensch diese Lok, obwohl der Name beidseitig angebracht war. Beim "Adler" handelte es sich um eine halbe Elektrische Lok! Sie transportierte Material und Werkzeug für den Tagebaubetrieb. Auf Grund ihres „amputierten“ Aussehens wurde sie der "Pobel" genannt.

Die Großzössner “Lache“ im Jahr 2012

Und noch ein Wort zur "Lache". Sie diente Jahrzehnte lang als ideale Bademöglichkeit nicht nur für die Großzössner. Der Begriff "Lache" bedeutet eine kleine Ansammlung von Wasser und ist die kleinste Form der Stillgewässer. Ursprünglich wurde hier eine Grobkiesanlage betrieben. Nach der Ausbeute des Kieses oder eines Wassereinbruches beabsichtigte ein leitender Mitarbeiter der Dora und Helene hier einen Entendeich einzurichten. Das mit glasklarem Wasser gefüllte Areal war schon teilweise umzäunt. Der "Entendeich" war nicht für heimische Wildenten gedacht, sondern hier sollten „Spezies“ von Wildenten  gezüchtet werden. Doch die Geschichte hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die "Lache" wurde den Großzössnern und anderen Bürgern der Umgebung ihr beliebtester Badeort. Heute nutzt der Anglerverein dieses Gewässer. Opa schreibt auch über das "Hosenkreuz", "Das Bullenkloster", die Gaststätten "Scharfe Ecke" und  die von "Mutsch", “Max Müller Tunnel“, den „Eisernen Gustav“  u.a.  Ja diese Art von Namensnennungen durch die Bewohner der Städte und Dörfer hatten ihre Bedeutung und Reize. Sie ist oftmals nicht in den Chroniken oder Geschichtsbüchern beschrieben und bedurften keines Beschlusses der Regierenden.

Sarah Schneider

 

Als Zeitzeugen hat Opa  Frau Lampert (Tochter von Rudolf Morbach), Frau Witteck, Herrn Hubert Mehnert, Herrn Rudolf Liebing und Herrn Kupfer konsultiert. Für deren Informationen herzlichen Dank.

Original Handschrift von Rudolf Morbach aus seiner Chronik